Abb. 1: Lehrbuchzeichnung von 1892 – Vergleich eines normalen weiblichen Brustkorbs (links) mit einem durch jahrelanges Schnüren deformierten Brustkorb (rechts). Die Korsettstangen und die enge Schnürung konnten auf Dauer zu solchen Verkrüppelungen
Sprechblasen und Leerformeln sind wir von unseren überforderten Politikern ja gewöhnt. Wurden wir bisher mit „Bazooka”, „Doppelwumms” und „Zeitenwende” unterhalten, so redet sich nun auch unsere neue Regierung hemmungslos in Grund und Boden.
Unser aller neuer Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) will bei der Deutschen Bahn Korsettstangen einziehen [1].
Hmmm, was wollen uns diese Worte sagen? Vermutlich nichts Konkretes. Da platzt offenbar jemandem medienwirksam die Hutschnur, da wird wirtshausmäßig mit der Faust auf den Tisch gehauen – Wumms! Ach nein, dieses Wort ist bereits verbraucht, sorry.
Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt alle Menschen, die diese diffuse Botschaft erreichen soll, mit dem Begriff „Korsettstange” und deren politischer Konnotation etwas anfangen können. Ich habe daher einmal ein wenig recherchiert.
Die Korsettstange ist wesentlicher, tragender Teil des „Korsetts”, einer Art Zwangsjacke, um dem weiblichen Körper eine Form zu geben, die er natürlicherweise nicht hat. Die Mode des 17. bis 20. Jahrhunderts wurde maßgeblich durch das Korsett geprägt. Ab 1865 etwa galt es als élégant, den Taillenumfang auf etwa 50 cm herunter zu schnüren. Die nur noch aus alten Filmen bekannten Ohnmachtsanfälle von jungen Frauen, wenn es aufregend wurde, waren nicht gespielt, sondern häufige Folge der erzwungenen Atemnot. Kuriosität am Rande: Es gab in der Biedermeier Epoche zeitweise auch einige eitle Herren, die sich ihren Hängebauch mittels eines Korsetts in eine akzeptable Form pressen ließen.
Aus moderner Sicht erscheint das Korsett als ungesundes körperliches Zwangsmittel, seine gesundheitliche Wirkung war aber auch schon damals zumindest umstritten. War das Tragen eines Korsetts zunächst ein Privileg und Statussymbol derjenigen, die nicht körperlich arbeiten mussten, wurde es nicht überraschend mit dem Aufkommen der Frauenrechtsbewegung zunehmend zum umstrittenen Symbol weiblicher Unterdrückung. Diese deutliche Negativ-Konnotation hat sich bis heute erhalten. Die Auflehnung gegen das Korsett ging Hand in Hand mit Forderungen nach Bildungs- und Wahlrechten für Frauen.
Spätestens mit dem Verschwinden des Korsetts aus der Alltagsmode wurde es umso präsenter als Metapher. In vielen Sprachen steht das Wort „Korsett” sinnbildlich für Zwang, Einengung und starre Ordnung. Über 100 Jahre nach seinem faktischen Verschwinden aus der Mode taucht es im Sprachgebrauch wieder auf, sobald es um Struktur und Zwang, um Form und Disziplin geht. Das Wort mag altmodisch klingen, aber gerade das verleiht ihm in der Politik eine gewisse Prägnanz. Es suggeriert, ganz im aktuellen Retro-Trend, Tradition und Strenge, was ein bestimmtes Wählerklientel (konservativ-ordnungsorientiert) durchaus anspricht.
Im Kontext moderner Unternehmensführung, die eher auf Flexibilität und Innovation setzt, wirkt dieses Bild eher anachronistisch. Das ist vermutlich auch die konservative Absicht hinter der problematischen Verwendung dieses historisch so beladenen Worts: „Vorwärts Leute. Es geht zurück – in die gute alte Zeit.” Schließlich ist ein Korsett nicht gerade ein Symbol für Agilität – es steht für das Gegenteil: rigide Form um jeden Preis. Allerdings, von starren Strukturen hat die Deutsche Bahn mehr als genug.
Interessant ist er implizite Gender-Aspekt: Die Bahn, ein etwas angestaubter, traditionell von Männern dominierter Technologiekonzern, wird metaphorisch in ein weiblich konnotiertes Kleidungsstück gezwungen. Ist die Deutsche Bahn also eine noch recht gut erhaltene reife Dame, die nur etwas „moppelig” geraten ist und nun falsche Tatsachen vortäuschen muss? Hoffentlich fällt sie dabei nicht in Ohnmacht.
Oh, oh, wen haben wir uns denn da als Verkehrsminister eingefangen? Kann das gut gehen?
Aber der verbal wilde Schnieder ist nicht einmal allein mit seiner brachialen Retro-Ausdrucksweise. Auch die neue Bauministerin Hubertz will mit der "Brechstange" auf das Baugesetzbuch losgehen [2]. Das darin enthaltene komplexe Vorschriftengewebe mag mit den Jahren gewuchert sein. Der Begriff "Brechstange" aber weckt eher unappetitliche, neo-liberale Assoziationen an Milei‘s Kettensäge [3] und dessen geistigem Bruders Elon Musks DOGE-Vandalen [4].
Dabei hätte es mit der Regierungserklärung [5] für CDU-Verhältnisse durchaus vernünftig beginnen können. Als DER SPIEGEL Merz’ Rede (vorübergehend), „so aufregend wie eine Steuererklärung” nannte, war das wohl despektierlich gemeint. In Wahrheit ist diese Berechenbarkeit eher ein Kompliment, wie wir an anderer Stelle [6] einmal ausgeführt haben.
Habe ich von dieser Verlegenheitsregierung bisher schon nicht viel erwartet, so lassen mich diese rüden Retro-Sprüche eher weiteren Schaden befürchten.
Zum Nachlesen
- Steele, V. (2001). The Corset: A Cultural History. New Haven, CT: Yale University Press. – Umfassende Kulturgeschichte des Korsetts, die zeigt, dass Korsetts nicht nur als Unterdrückungsinstrument, sondern auch als Symbol für Status, Selbstdisziplin und Schönheit verstanden wurden.
- Summers, L. (2001). Bound to Please: A History of the Victorian Corset. Oxford/New York: Berg Publishers. – Detaillierte Untersuchung des viktorianischen Korsetts und seiner Bedeutung, insbesondere im Spannungsfeld zwischen Mode, Moral und Frauenrechten im 19. Jahrhundert.
- Schillig, A. (2015). Geliebt und verfemt: Das Korsett – Diskursgeschichte eines Kleidungsstücks. Veröffentlicht auf Zenodo (doi:10.5281/zenodo.46229). – Analyse der wechselvollen Diskurse über das Korsett vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, mit Schwerpunkt auf den kontroversen Wertungen (von begehrt bis verteufelt) und den gesellschaftlichen Debatten darum.
- Kiupel, B. (2024, 18. Januar). Raus aus dem Korsett. Digitales Deutsches Frauenarchiv (Online-Artikel). – Historischer Überblick zur Frauenbewegung im Kaiserreich, der das Korsett metaphorisch als Sinnbild für die engen Grenzen sah, gegen die Frauen kämpften. Beleuchtet, wie das „Korsett” als Symbol der Einengung bis heute in Sprache und Denken nachwirkt.
- Budras, C. (2025, 23. Mai). Verkehrsminister: Bei der Bahn werden „Korsettstangen” eingezogen. Frankfurter Allgemeine Zeitung. – Zeitungsbericht, der Patrick Schnieders umstrittene Äußerung im Kontext der Bahn-Strukturreform wiedergibt. Dient als Beispiel für die aktuelle Verwendung der Korsett-Metapher in der politischen Kommunikation.
- Hess, L. (2020, 18. April). The Story Behind Madonna’s Iconic Jean Paul Gaultier Cone Bra. Vogue. – Magazinartikel über Madonna’s berühmtes Korsett-Bühnenoutfit (Gaultiers Konus-BH) und dessen Bedeutungswandel: Vom historischen Zwangsinstrument zum popkulturellen Symbol für weibliche Stärke und sexuelle Selbstbestimmung. Der Artikel zeigt, wie das Korsett in den 1990ern als Akt der Selbstermächtigung neu interpretiert wurde.
[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung. (n.d.). Verkehrsminister Schnieder greift bei der Deutschen Bahn durch. Abgerufen am 27. Mai 2025, von https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/auto-verkehr/verkehrsminister-schnieder-greift-bei-der-deutschen-bahn-durch-110496269.html
- Diese Quelle behandelt die Maßnahmen von Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder (CDU) bei der Deutschen Bahn, darunter insbesondere seine symbolhafte Verwendung des Begriffs „Korsettstangen” zur Verdeutlichung von Strukturreformen und Stabilisierungsschritten.
[2] Tagesschau. (n.d.). Wohnungsbau und Mieten: Hubertz fordert zügiges Handeln. Abgerufen am 27. Mai 2025, von https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wohnungsbau-mieten-hubertz-100.html
- Der Artikel berichtet über die politischen Forderungen von SPD-Politikerin Verena Hubertz bezüglich schneller Maßnahmen gegen Wohnungsnot und steigende Mieten in Deutschland. Zentrale Aussagen drehen sich um politischen Handlungsdruck und sozialpolitische Herausforderungen.
[3] Associated Press. (2025, Februar 21). Musk waves a chainsaw and charms conservatives at CPAC. AP News. https://apnews.com/article/musk-chainsaw-trump-doge-6568e9e0cfc42ad6cdcfd58a409eb312
- Dieser Artikel beschreibt, wie der argentinische Präsident Javier Milei während der Conservative Political Action Conference (CPAC) in den USA eine Kettensäge an Elon Musk überreichte. Die Kettensäge, graviert mit dem Slogan „Viva la libertad, carajo”, symbolisiert Mileis radikale Reformagenda zum Abbau staatlicher Bürokratie. Die Geste unterstreicht Mileis Einsatz der Kettensäge als Metapher für tiefgreifende staatliche Einschnitte.
[4] Axios. (2025, Mai 1). Elon Musk opens up: Admits DOGE has fallen short of expectations. https://www.axios.com/2025/05/01/elon-musk-doge-interview
- In diesem Interview äußert sich Elon Musk zu den Herausforderungen und Kritikpunkten im Zusammenhang mit seiner Leitung des Department of Government Efficiency (DOGE). Er räumt ein, dass die Initiative nicht alle Erwartungen erfüllt hat, und spricht über die Proteste und Vandalismusakte, die sich gegen Tesla-Händler richteten. Der Artikel bietet Einblicke in die öffentliche Reaktion auf Musks Rolle bei DOGE und die damit verbundenen politischen Spannungen.
[5] Spiegel. (n.d.). Regierungserklärung: Das hat Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigt. Abgerufen am 27. Mai 2025, von https://www.spiegel.de/politik/regierungserklaerung-das-hat-bundeskanzler-friedrich-merz-angekuendigt-a-0f58caf0-bd36-4433-96f2-8cf4055af643
- In diesem Artikel fasst der Spiegel die zentrale Regierungserklärung von Bundeskanzler Friedrich Merz zusammen, insbesondere seine politischen Vorhaben und strategischen Schwerpunkte, darunter auch Aspekte der Außenpolitik und der Rolle Deutschlands in Europa.
[6] Europäer für den Planeten. (2024, 29. November). Politik anders betreiben. Abgerufen am 27. Mai 2025, von https://eufp.de/2024/11/29/politik-anders-betreiben/
- Dieser Beitrag auf der Webseite „Europäer für den Planeten” skizziert neue Ansätze zur politischen Praxis in Europa, insbesondere mit Blick auf nachhaltige Politikgestaltung und Bürgerpartizipation. Das Dokument wirbt für einen Wechsel der politischen Kultur und Strategien, um auf globale Herausforderungen besser reagieren zu können.
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