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Living in perfect harmony? |
Im Normalfall würde ich mich freuen, wenn ich mit meinen Prognosen richtig lag. Diesmal jedoch will keine rechte Freude aufkommen.
Damals im Sommer 2021, vor 4 Jahren also, schrieb ich in der deutschsprachigen Ausgabe des gemeinsam mit Hang Nguyen und Andreas Dripke verfassten Werks "Europa am Scheideweg" [1]:
Heute noch kämpfen wir mit der Erkenntnis, dass wir Europäer, angesichts der gigantischen Herausforderungen vor der die Menschheit als Ganzes steht, unsere Gemeinsamkeiten über das Trennende stellen sollten.
Das zu erreichen und damit ein handlungsfähiges Europa zu erschaffen, wird über einige Jahre unsere ganze Kraft kosten. Wir ahnen aber bereits, dass das noch lange nicht das Ende der Geschichte, "The end of history" [2], sein kann.
Wir müssen Europa nicht zuletzt deshalb erschaffen, damit wir unsere Geschicke in der Welt selber mitentscheiden können, damit wir unsere Interessen durchsetzen können, damit wir in dem großen Gerangel nicht zwischen den Weltmächten zerrieben werden.
Dieses große Gerangel der Weltmächte hat längst begonnen. Wir Europäer scheinen bereits zwischen deren Mahlsteine geraten zu sein. Das jedenfalls lassen die Berichte über den "verhängnisvollen Trade-Deal" vermuten, der am vergangenen Sonntag bezeichnender Weise in Donald Trumps eigenem Golf Ressort, dem schottischen Turnberry Golf Club stattfand. Landesweite Proteste wegen Tumps Schottland-Besuch sorgten für die passende Begleitmusik [3].
Den Inhalt der Vereinbarungen kann man allenthalben nachlesen. Interessanter schon sind die spontanen Reaktionen der Beobachter, der Betroffenen und die Rechtfertigungen der am "Deal" Beteiligten:
- "Europa kapituliert vor Donald Trump", schreibt Michael Sauga, im Leitartikel von Der SPIEGEL [4]
- "Für Donald Trump ist es ein Deal, für Europa eine Kapitulationserklärung. Das Treffen des US-Präsidenten mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im schottischen Turnberry Golf Club endete als Jalta ohne Krieg", schreibt Gabor Steingart in The Pioneer [5],
- "Die EU verzwergt sich selbst" kommentiert Hendrik Kafsack in der FAZ die "Lösung" des Zollstreits mit den USA [6].
Ursula von der Leyen, die den Lead in den Gesprächen hatte, sprach sibyllinisch von einer "Neugewichtung" im transatlantischen Verhältnis und "machte gute Miene zum bösen Spiel".
Dies ist der "größte Deal aller Zeiten" freute sich Donald Trump hingegen wie ein Schneekönig: Der Schneekönig und die 27 Zwerge möchte man in Anlehnung an ein Märchen, mit allerdings gutem Ausgang, reimen.
Und so fasst Hendrik Kafsack denn auch zusammen: "Die EU war nicht geschlossen genug, um Trump wie Kanada und China Zölle entgegensetzen zu können. Sie glich in diesem Konflikt tatsächlich eher einen Zusammenschluss von 27 Zwergen als einem europäischen Riesen. Zur Wahrheit gehört indes auch, dass es für sie angesichts der Abhängigkeit in der Sicherheitspolitik schwer möglich war. Ihr fehlt das Drohpotential, wie es China mit seiner Kontrolle über kritische Rohstoffe hat. Trump hat das eiskalt erkannt und ausgenutzt."
Die Liste der Kommentare könnte endlos weitergeführt werden. Der Tenor reicht von Besorgnis (BDI) über kleinmütige Akzeptanz des ungleichen Kräfteverhältnisses (BGA) bis hin zu Hohn und Spott bei den weniger abhängigen Kommentatoren. Auch bei den internationalen Beobachtern und Kommentatoren setzt sich dieses Bild fort, z. B. bei Riley Callanan in GZero Media [7].
Während also Ursula von der Leyen, aber auch Friedrich Merz und Lars Klingbeil das Ergebnis zu rechtfertigen versuchen, sollte sich in jedem Bürger mit noch einigermaßen erhaltenem Rückgrat (Politiker also ausgenommen) trotziger Widerstand regen: so kann, so darf es nicht weiter gehen!
Aus den 27 Zwergen muss ein Riese werden, der sich wie Kanada oder China zur Wehr setzen kann.
"Europa befindet sich also in der Schwebe zwischen einer Vergangenheit, die es zu überwinden sucht, und einer Zukunft, die es noch nicht definiert hat."
Mit diesen starken Worten schließt Henry Kissinger das Kapitel 2 "Das europäische Machtgleichgewichtssystem und sein Ende" seines 2014 erschienenen Buches "Weltordnung" [8]
Das sind wahre Worte, klar und eindeutig, hinreichend provokant formuliert, um als Aufruf zum Handeln zu dienen.
Bisher jedoch stießen sie und stoßen offensichtlich weiterhin auf taube Ohren.
Hat Europa vielleicht doch, neben der Aufgabe der Rolle des Hilfssheriffs an der Seite des Weltpolizisten vielleicht doch eine Mission, eine Aufgabe, die Europa versuchen sollte in dieser Welt zu erfüllen?
Ich meine ja. Wir als Menschheit stehen vor großen Herausforderungen, die größer sind als Deutschland, größer als Europa. Wir können nur hoffen, dass sie noch nicht zu groß sind für die Menschheit.
Die "langfristige Erhaltung der Lebensgrundlagen für die Lebewesen auf diesem Planeten" muss der primäre Imperativ lauten, dem wir zu folgen haben. Alternativen dazu kann es jedenfalls nicht geben, es sei denn wir wären geneigt, einen kollektiven Suizid mittelfristig als Alternative zu betrachten.
Dieser Maßgabe zu folgen bedeutet stärker als Gemeinschaft zu handeln, stärker jedenfalls als wir es bisher getan haben, viel stärker als es der US-Bürger gewöhnt ist, aber hoffentlich in einem anderen gesellschaftlichen Stil als es China zu tun pflegt.
Daraus ergibt sich ein wichtiges, typisch Europäisches Nebenziel: "Der Erhalt und die Verteidigung der liberalen Bürgerfreiheiten". Es ist zu befürchten, dass sie sich bei der Bewältigung der vor uns als Menschheit liegenden Aufgaben, nicht in dem Maße aufrechterhalten lassen werden, wie wir es gewöhnt sind und als selbstverständlich ansehen. Umso bedeutsamer wird es sein, sie in den Vordergrund zu rücken.
"Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist" wird der französische Schriftsteller Victor Hugo[9] gerne zitiert.
Ist die Zeit für den Multinationenstaat "Europa" schon gekommen? Ich meine ja – und nicht erst seit heute. Darum muss Europa neu gedacht und neu gemacht werden [10].
[1] Dripke, A., Nguyen, H., & Walther, H. (2021). Europa am Scheideweg: Was Europa tun muss, um seine Zukunft zu retten. Diplomatic Council e.V. https://www.amazon.com/Europa-Scheideweg-Zukunft-retten-German-ebook/dp/B09M74G9TT
- Dieses Buch stellt einen Zukunftsplan für Europa vor, verfasst von Mitgliedern des Diplomatic Council. Es beleuchtet Chancen und Herausforderungen der EU und fordert politische Reformen, um nachhaltigen Wohlstand und internationale Relevanz zu sichern. Relevante Quelle für Debatten über europäische Integration, strategische Planung und politisches Engagement.
[2] Fukuyama, F. (1992). The end of history and the last man. Free Press.
- In diesem politisch-philosophischen Werk argumentiert Fukuyama, dass der Zusammenbruch des Kommunismus das Ende der ideologischen Entwicklung markiere – mit Liberalismus als vermeintlichem Endpunkt. Das Buch ist ein Klassiker der politischen Theorie und diskussionswürdiger Ausgangspunkt zur Reflexion über Demokratien, historische Progression und geopolitische Stabilität.
[3] WELT. (2025, Juli). Trump-Besuch verwandelt historischen Golfplatz in Sperrzone – landesweite Proteste. WELT. https://www.welt.de/politik/ausland/article6883fcb30e680a76f4e95ea7/schottland-besuch-trump-verwandelt-historischen-golfplatz-in-sperrzone-landesweite-proteste.html
- Der Artikel dokumentiert den Besuch von US-Präsident Donald Trump in Schottland, die Sperrung eines historischen Golfplatzes und die begleitenden Proteste. Relevant zur Analyse internationaler Diplomatie, öffentlichem Widerstand und symbolträchtiger Inszenierungen politischer Besuche.
[4] Sauga, M. (2025, 27. Juli). Handelsdeal mit den USA: Europa kapituliert vor Donald Trump. Der Spiegel. https://www.spiegel.de/wirtschaft/handelsdeal-mit-den-usa-europa-kapituliert-vor-donald-trump-kommentar-a-286286c0-5c2b-4764-92e7-db90b8d02998
- Michael Saugas Kommentar am 27. Juli 2025 stellt den jüngsten Zolldeal der EU mit den USA als instinktive Kapitulation gewürdigt dar. Der Text beleuchtet europäische Wirtschafts- und Verhandlungspolitik im Spannungsfeld zu US-amerikanischen Forderungen – ein kritischer Beitrag zur Debatte über europäische Strategie und Souveränität.
[5] Steingart, G. (2025, 28. Juli). Zolleinigung: Jalta ohne Krieg. The Pioneer. https://www.thepioneer.de/originals/others/articles/zolleinigung-jalta-ohne-krieg
- Gabor Steingart zieht in diesem Artikel Parallelen zu Jalta-Diplomatie – aber in friedlichem Kontext: Nach dem Gipfeltreffen von EU und USA vergleicht er die zollpolitische Einigung mit einem historischen Abkommen. Die Quelle reflektiert kritisch über aktuelle Handelsverhandlungen und geopolitische Machtbalance.
[6] Kafsack, H. (2025, 28. Juli). Zollstreit mit den USA: Die EU verzwergt sich selbst. Frankfurter Allgemeine Zeitung. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/zollstreit-mit-den-usa-die-eu-verzwergt-sich-selbst-110610559.html
- In diesem Kommentar kritisiert Hendrik Kafsack den Zollkompromiss mit den USA. Er beschreibt ihn als ein strategisches Versagen europäischer Verhandlungsmacht und hinterfragt die Verhandlungsführung von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen. Nützlich für Analysen über Machtpolitik und europäische Außenvertretung.
[7] Callanan, R. (2025, 28. Juli). US and EU strike trade deal. GZERO Media. Abgerufen am [aktuelles Datum einsetzen], von https://www.gzeromedia.com/news/analysis/us-and-eu-strike-trade-deal
- In diesem Analysebeitrag beschreibt Riley Callanan den am 28. Juli 2025 geschlossenen Rahmen-Handelsvertrag zwischen den USA und der EU. Der Artikel erläutert die Einigung über 15 % Zölle auf EU-Exporte wie Autos, Pharmazeutika und Halbleiter sowie das Versprechen der EU, 750 Mrd. USD Energieprodukte zu kaufen und 600 Mrd. USD zu investieren. Die Analyse zeigt politische Spannungen und betont die Bedeutung für die Stabilität transatlantischer Handelsbeziehungen.
[8] Kissinger, H. (2014). Weltordnung: Reflexionen über die Grundlagen internationaler Politik (D. Schumacher, Übers.). München: C. Bertelsmann.
- In Kapitel 2 ("Das europäische Machtgleichgewichtssystem und sein Ende") analysiert Kissinger das klassische europäische Staatensystem von Westfälischer Ordnung bis zum Ersten Weltkrieg. Er schildert dessen Struktur als historisch einzigartige Form der internationalen Ordnung, die durch Diplomatie, Interessenbalance und dynastische Staaten geprägt war. Das Kapitel endet mit einem markanten, fast elegischen Schlusssatz, der die Ablösung dieser Ordnung durch ideologische Konflikte im 20. Jahrhundert betont. Es eignet sich als Einstieg in das Denken Kissingers zur historischen Funktion von Machtbalancen und deren Fragilität.
[9] Victor Hugo (n. d.). In Wikipedia. Abgerufen 2025-07-29 von https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Hugo
- Dieser Wikipedia-Artikel bietet eine fundierte, gut strukturierte Übersicht über das Leben und Werk Victor Marie Hugos (1802–1885), einschließlich seiner Hauptwerke wie Les Misérables und Notre-Dame de Paris. Er beleuchtet gleichermaßen seine Rolle als Schriftsteller, Politiker und Aktivist sowie seine Bedeutung für die französische Romantik und republikanische Ideengeschichte.
[10] Europäer für den Planeten. (o. J.) – Partei für Europas Rolle in der Welt. https://eufp.de/
- Die Website der Partei "Europäer für den Planeten" bietet programmatische Beiträge, Positionen zur europäischen Außen- und Umweltpolitik sowie Analysen zur Rolle Europas im globalen Kontext. Sie dient als Plattform für politische Ideen, Projekte und Veröffentlichungen zur strategischen Selbstverortung Europas. Relevante Quelle für politische Konzepte jenseits traditioneller Parteimodelle mit Fokus auf Nachhaltigkeit und europäische Verantwortung in der Welt.
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